boxleitnerb
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1. Kapitel
"Anna Lena, wenn du so weiter machst, wirst du noch aus dem Fenster fallen!" tadelte Hiltrud ihre juengste Tochter amuesiert, "Ausserdem bist du so keine besonders grosse Hilfe! Vater kommt auch nicht frueher zurueck, wenn du dich alle paar Sekunden hinauslehnst um nach ihm zu sehen!" "Entschuldige, Mutter!" erwiderte Anna mit gespielter Reue – um sich zwei Minuten spaeter wieder von ihrem Platz auf der Bank am Kuechenfenster vorzubeugen und in die Klostergasse hinauszuspaehen, ueber die ihr Vater von seiner Geschaeftsreise nach Hause kommen musste.
Hiltrud sah es, oeffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, und verkniff es sich dann. Worte konnten gegen Erwartung eben nichts ausrichten. Statt dessen fuhr sie fort, schweigend das Silber zu putzen, und betrachtete ihre beiden Toechter, die ihr dabei halfen. Berta, die aeltere, hockte am Kuechentisch und schrubbte mit wenig Begeisterung im Gesicht vor sich hin. Sie zaehlte 20 Jahre und war eine etwas plumpe Erscheinung, was sie zahlreichen heimlichen naechtlichen Ausfluegen in die Speisekammer verdankte. Haesslich konnte man sie nicht nennen, aber eine Schoenheit war sie auch nicht gerade. Das lange dunkle Haar lag ihr flach auf dem Kopf auf und wirkte meist etwas ungewaschen, und das runde Mondgesicht mit den kleinen grauen Augen drueckte gemuetliches Desinteresse aus. Ausserdem liessen ihre Manieren zu wuenschen uebrig, die Hellste war sie ohnehin nicht!
Aus dem Grund war Anselm auch der Meinung, dass man sie unbedingt bald verheiraten muesse, bevor ihre unschoenen Eigenschaften zu bekannt wurden und sie gar keiner mehr haben wollte, obwohl sein Geschaeft samt dem riesigen Hof an der hinteren Stadtmauer bei der Hochzeit mit Berta an ihren Ehemann fiel.
Aus diesem Grund war er auch jetzt hauptsaechlich unterwegs. Bei seiner Rueckkehr wuerde er den zukuenftigen Braeutigam, den er Berta zugedacht hatte, mitbringen. Das wussten die Maedchen allerdings nicht, sonst waere Anna vor Neugier sicher wirklich schon aus dem Fenster gefallen, und auch Berta haette wohl etwas mehr Interesse an seiner Rueckkehr gezeigt.
Hiltruds Augen blieben an ihrer Juengsten haften. Anna war gerade 18 geworden. Fuer sie einen Mann zu finden wuerde sicher kein Problem sein, auch ohne die stattliche Mitgift, die ihr zugedacht war. Sie war so wunderschoen, dass sich saemtliche Burschen von Rothenburg, ob verheiratet oder nicht, auf der Strasse nach ihr umdrehten. Langes, fast schwarzes Haar, grosse, leuchtend gruene Augen und ein sinnlicher geschwungener Mund im Gesicht eines Engels. Sie hatte einen schlanken, zierlichen Koerper mit ueppigen Rundungen an den richtigen Stellen, eine alabasterweisse Haut, und sie bewegte sich mit einer umwerfenden natuerlichen Anmut. Darueberhinaus war sie gescheit, selbstbewusst und schlagfertig, und so manchen allzu unverschaemten Juengling hatte sie schon auf der Strasse vor versammelter Mannschaft abgekanzelt, was ihr die Lacher und die Sympathien vieler Rothenburger eingebracht hatte. Sie war mehr als nur schoen anzusehen, man konnte sich wahrhaftig mit ihr unterhalten. Ausserdem musste der Mann, der sie unziemlich beruehrt haette, ihr erst noch begegnen. Sie war rein wie frisch gefallender Schnee.
Schon einige junge und auch aeltere Maenner hatten bei Anselm anklingen lassen, dass sie seine Anna gern als Braut heimgefuehrt haetten, aber der Kaufmann hielt sich bedeckt. Erstens musste er zuerst Berta unter die Haube bringen und zweitens war ihm durchaus bewusst, dass Anna der Koeder war, mit dem man einen reichen und maechtigen Schwiegersohn an Land ziehen konnte. Also wollte er warten, ob sich nicht doch noch etwas besseres ergab als Rothenburger Moechtegernherren. Vorlaeufig konnte er sich das noch erlauben, denn Anna hatte bisher noch an keinem Mann Interesse gezeigt, sie alle als Dummkoepfe und Aufschneider bezeichnet und die Nase ueber sie geruempft.
"VATER IST DA!" schrie Anna ploetzlich und stob von ihrer Bank, dass das gute Silber in alle Richtungen davonflog. Wie der Wind war sie die Tuer hinaus und die Treppen hinab. Hiltrud seufzte und folgte ihr mit Berta etwas langsamer.
Anselm war kaum von seinem Kutschbock herunter, da warf sich Anna auch schon in seine Arme und bestuermte ihn mit Fragen ueber seine Reise, ueber Neuigkeiten und – natuerlich – ob er ihr denn etwas mitgebracht haette. Anselm lachte ueber den Ueberschwang seiner Juengsten und schob sie mit sanfter Gewalt von sich: "Langsam, Anna, langsam....nun lass mich erstmal verschnaufen und dann die grosse Neuigkeit verkuenden!" Er strich sich sein Wams glatt, machte eine bedeutungsschwangere Pause, genoss Annas Spannung und Bertas langsam erwachendes Interesse, und fuhr dann fort: "Heute Abend, liebe Berta, wird dein zukuenftiger Braeutigam bei uns eintreffen. Er wird bei mir in die Lehre gehen, und sobald er bereit ist, den Betrieb zu fuehren, sollst du ihn heiraten!"
Anna verzog das Gesicht; und das sollte die grosse Neuigkeit sein!? Wer wuerde sich ueber so etwas schon freuen? Sie drehte sich zu ihrer aelteren Schwester um, bereit, ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen, und stellte ueberrascht fest, dass Bertas Gesicht strahlte vor Glueck. Mit einem Freudenschrei fiel sie ihrem Vater um den Hals und jubelte: "O Vater, das ist ja wunderbar! Wer ist er?" Anna dachte sich, dass sie sich das Jubeln vielleicht besser bis nach dieser Eroeffnung aufgehoben haette.
Anselm fuhr fort: "Erinnert ihr euch an Thomas, den zweitaeltesten Sohn der Adler-Familie?" O ja, an den erinnerte Anna sich allerdings! Die Adler-Familie fuehrte das groesste Wirts- und Gasthaus im 20 Kilometer entfernten Ansbach, und der Adler-Wirt und Anselm waren Freunde seit Kindertagen. Oft hatten sich die Familien gegenseitig Besuche abgestattet, und gerade Thomas war Anna in aeusserst unangenehmer Erinnerung geblieben. Sie hatte ihn zwar seit etwa sechs Jahren nicht mehr gesehen, aber dennoch erinnerte sie sich sehr genau daran, dass der um sechs Jahre aeltere Junge sie mit Freude an den Haaren gezogen und mit allerlei Krabbelviehzeug wie Spinnen und Froeschen erschreckt hatte. Die Kroenung war gewesen, als er und sein aelterer Bruder Bengt ein Huhn fuers Abendessen hatten schlachten sollen, und Thomas ihr das noch flatternde, blutende und kopflose Tier in den Nacken gesetzt hatte. Anna war eigentlich nicht sehr zimperlich, aber da hatte sie beinahe einen hysterischen Zusammenbruch erlitten, bis Bengt sie von dem Vogel endlich befreit hatte, was sich als schwierig erwiesen hatte, weil sie herumgerannt war wie eine Irrsinnige.
Seither hatte sie Thomas’ Gegenwart tunlichst vermieden. Und ausgerechnet er wurde ihr nun als Schwager vor die Nase gesetzt! Nunja, mittlerweile wuerde er 24 sein und sicherlich von solchen kindischen Spaessen absehen. Waehrend die Dienstboten den Karren abluden, folgte Anna missmutig der aufgeregten Berta und ihren Eltern ins Haus. Thomas sollte am Abend eintreffen, und es gab noch einiges fuer das Festmahl zur Feier des Tages vorzubereiten.
****
Thomas konnte Rothenburg schon sehen, als er aus dem Wald herausritt. Seinem Rappen, der schon ein paar Jaehrchen auf dem Buckel hatte, sammelte sich bereits Schaum vor den Nuestern, so hatte der junge Mann das arme Tier von Ansbach aus gehetzt. Es war ein lauer Fruehlingsabend, und er musste sich sputen um noch rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit den Hof des Kaufmanns zu erreichen, dessen Tochter er ehelichen sollte.
Die Wachen am Tor lehnten gelangweilt an der dicken Steinmauer, als er sich naeherte. Einer der Maenner richtete sich aechzend auf, als Thomas heranritt, und erkundigte sich desinteressiert: "Was ist Euer Begehr in den Mauern von Rothenburg?" "Heute Abend bin ich Gast bei Anselm dem Kaufmann und seiner Familie, die ein Fest anlaesslich meiner Verlobung mit seiner aeltesten Tocher gibt. Ich schlage Euch vor, das Tor schleunigst zu oeffnen, wenn ihr von dem vielen Bier das sicherlich fließen wird, nach eurer Wache auch etwas abhaben wollt!" Die beiden Maenner warfen sich einen belustigten Blick zu: "Die Berta sollt Ihr heiraten? Dann wird von dem Bier sowieso nichts uebrig bleiben, das werdet Ihr selbst brauchen, die muesst Ihr Euch schoentrinken!" Damit gaben sie das Tor frei.
Thomas trieb sein Pferd unter dem massiven Steinbogen hindurch, sichtlich verwirrt. Er hatte sie und ihre Schwester Anna-Lena zwar lange Zeit nicht mehr gesehen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Berta sich seit damals so veraendert haben sollte. Er ritt die gepflasterte Strasse entlang und kam schließlich an das große Haus, das Anselm gehoerte. Mit anderen Haeusern in Rothenburg verglichen war es geradezu riesig. Das einzige Gebaeude, das es in der Groeße noch ausstach, war die Kirche, die wie ein einsamer Waecher in der anbrechenden Nacht ueber der Stadt wachte.
Das Hoftor, das den Eintritt durch eine gewaltige Steinmauer ermoeglichte, war einen Spalt offen, Fackelschein und das Summen von Stimmen drang hindurch. Anselm hatte das Festmahl im Hof errichten lassen, da es der erste schoene Tag dieses Jahres war. Als Thomas hindurchritt, richteten sich alle Blicke auf ihn. Nur Anselm hatte ihn auch in juengerer Vergangenheit gesehen und so war es nicht verwunderlich, dass ihm von dem einen oder anderen ein 'Ah' oder Oh' entgegenhallte. Er hatte nicht mehr allzuviel Aehnlichkeit mit dem Juengling von damals. Eher schmaechtig war er gewesen und hatte noch sehr jungenhaft gewirkt. Doch jetzt saß da ein junger stattlicher Mann mit blonden Haaren im Sattel, dem man die viele koerperliche Arbeit auch ansah. Das weiße Leinenhemd, das er trug, verbarg nur schwerlich seinen muskuloesen Oberkoerper.
Berta und Anna legten gerade letzte Hand an die Tischdekoration, als er eintraf. Berta bemerkte ihn als erstes. Sie schnappte nach Luft und packte ihre juengere Schwester am Arm: "O Anna! Sieh ihn dir an! Er ist hinreissend!" Anna, die fest entschlossen war, ihren einstigen Todfeind in jedem Falle schrecklich zu finden, wollte ihm nur einen kurzen Blick zuwerfen, konnte es aber selbst nicht verhindern, dass sie sich nicht sofort von dem anziehenden Aeusseren Thomas' losreissen konnte, und aus ihrem geplant geringschaetzigen Blick wurde eine ueberraschte Musterung. Schliesslich wandte sie ihm fast aergerlich den Ruecken zu: "Er war immer ein Schurke, er wird immer einer bleiben, und wenn er ausschauen wuerde wie der Heiland persoenlich!" knurrte sie missgestimmt.
Thomas stieg behende vom Pferd, das der Stallknecht auch gleich wegfuehrte. Mit ausgebreiteten Armen kam ihm Anselm entgegen: "Ich freue mich ja so dass du gekommen bist! Du musst von dem langen Ritt ganz erschoepft sein. Aber schau nur was meine Frauen fuer ein koestliches Mal bereitet haben! Aber wo sind denn meine Manieren: Lass mich dir erstmal deine zukuenfigte Gattin vorstellen!" Anselm war sichtlich aufgeregt und fuehrte ihn zum Tisch, an dem ja alle schon versammelt waren. Der Kaufmann wies sichtlich stolz auf seine aeltere Tochter: "Das ist meine liebe Berta!" Thomas' Blick fiel auf sie und er wusste nicht genau wie er reagieren sollte, hatte er sich Berta doch etwas anders vorgestellt. Aber er brachte doch ein verlegenes Laecheln zustande, nahm ihre Hand und gab ihr einen unbeholfenen Handkuss, was die junge Frau dazu veranlasste, ihren Kopf kichernd zur Seite zu drehen.
Anna verdrehte so weit die Augen, dass nur noch das Weisse zu sehen war. Hiltrud versetzte ihr einen unsanften Stoss in die Seite, aber sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Auch sie hatte das Huhn nicht vergessen. Da trat Anselm auch schon zu Anna und ihrer Mutter und schob die beiden auf Thomas zu: "Und an meine geliebte Frau Hiltrud und die kleine Anna kannst du dich sicher auch noch erinnern, richtig?" Thomas laechelte zuerst die Frau des Hauses an, dann wandte er sich zu Anna: "Aber natuerlich, wie koennte ich zwei solch reizende Damen vergessen?" Er runzelte kurz die Stirn. "Doch sagt mir Anselm, seid Ihr sicher, das dies Eure Tochter Anna ist? Sie scheint sich seit damals gehoerig veraendert zu haben!" bemerkte er noch mit einem forschen Grinsen.
Anna verschraenkte die Arme vor der Brust und bemerkte giftig: "Ja, diesmal sitzt mit kein verdammtes Huhn im Nacken!" Ihre gruenen Augen waren die pure Herausforderung. Thomas raeusperte sich verlegen: "Ah das...ich kann mich noch daran erinnern. Du wirst mir doch wohl nach sechs Jahren nicht noch immer wegen dieser Geschichte boese sein? Und du musst zugeben, die ganze Angelegenheit war doch irgendwie lustig, findest du nicht?" "Ja...wahnsinnig lustig!" erwiderte Anna patzig, "Ich bekomme im Huehnerstall noch heute eine Gaensehaut!"
Gerade wollte ihr Thomas antworten, da trat Anselm heran und versuchte zu beschwichtigen: "Ich denke nachher ist noch genug Zeit dafuer. Jetzt lasst uns erstmal essen, der koestliche Lammbraten wird ja schon ganz kalt!" Man setzte sich an den Tisch, und die Maegde begannen, allen aufzutragen. Berta sass neben Thomas und betrachtete ihn hingerissen. Anna dagegen beaeugte ihn so misstrauisch, als erwartete sie, dass er ihr jeden Moment einen Frosch auf den Teller warf. Auch das hatte er schon einmal getan. Sie hatte nichts vergessen!
Aber Thomas begnuegte sich damit, sich die vielen verschiedenen Speisen munden zu lassen. Anselm hatte wirklich keine Kosten und Muehen gescheut um seinen Schwiegersohn in spe so richtig zu verwoehnen. Da war natuerlich das Lamm, das bis erst kuerzlich am Spieß gebraten hatte und einen koestlichen Duft verstroemte. Frisch gebackenes Brot, Kaese, Tomaten und Eier durften auch nicht fehlen. Dazu flossen Wein und Bier in Massen. Anselm ass kaum, er redete in einer Tour und wurde nicht muede, Thomas zu versichern, wie gut das Geschaeft lief, wieviel Geld da war und was fuer eine wunderbare Ehefrau seine Berta sein wuerde.
Wenn Anselm gerade eine kurze Pause machte, erzaehlte Thomas seinerseits von der Zeit als er seinem Vater im Gasthof geholfen hatte und von so manchem kuriosen Besucher, der sich im Laufe der Jahre dort eingefunden hatte. Manche Geschichten waren so urkomisch, dass sogar Anna lachen musste. Aber sobald sie es merkte, drehte sie sich moeglichst rasch weg oder verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Becher, damit Thomas auch ja nichts merkte und vielleicht auf die Idee kommen wuerde, dass sie ihn amuesant finden koennte.
So schnell verging die Zeit ueber diese Geselligkeiten, dass sich auch das kleine Weinfaesschen zusehends leerte. Als fast nichts mehr uebrig war bat Anselm seine juengere Tochter: "Ach Anna, Liebes, hol doch bitte noch etwas Wein aus dem Keller und schenke unserem Ehrengast ein! Sein Becher ist ja schon ganz leer!" Anna setzte schon an, um zu protestieren, dass sie schliesslich keine Magd sei, aber ihre Mutter kniff ihr in den Arm und warf ihr einen warnenden Blick zu. Also stand das Maedchen auf und stapfte verdrossen in Richtung Keller. Thomas sah Anna herausfordernd hinterher und bemerkte: "Anselm, du solltest sie vielleicht nicht alleine schicken. Man denke nur ein Huhn haette sich in den Keller verirrt, da wuerde sie doch glatt in Panik verfallen und den Krug auf den Boden werfen – und es waere doch schade um den teuren Wein!"
Die anderen brachen in schallendes Gelaechter aus. Anna stieg das Blut in den Kopf vor Wut. Dieser miese Hund! Sie hatte genau gewusst, dass er sich kein bisschen veraendert hatte! Foermlich kochend ging sie in den Keller und fuellte ihren Krug mit Wein. Auf dem ganzen Rueckweg ueberschlugen sich ihre Gedanken, wie sie es ihm heimzahlen konnte. Ihr Gesicht verhiess Unheil, als sie in den Hof zurueckkam und auf Thomas zuging, um seinen Becher zu fuellen.
Thomas sah ihr schon entgegen als sie mit wilder Miene auf ihn zugestapft kam. Als ob seine Sticheleien von vorhin nicht schon genug gewesen waren, hob er ihr jetzt laessig seinen Becher hin, als ob es fuer ihn eine Selbstverstaendlichkeit waere, dass sie ihn bediente. Oh, wie sie ihn in diesem Augenblick hasste! Und dann sah sie hinter ihm auf dem Tisch ein gebratenes Huehnchen. Das zufriedene Laecheln unterdrueckte sie gerade noch. Stattdessen schrie sie schrill auf und warf kunstvoll die Arme in die Luft, waehrend sie zuruecksprang. Sie hatte gut gezielt. Der Wein ergoss sich punktgenau einzig ueber Thomas, liess ihn mit ruiniertem Hemd und triefnassem Haar auf seinem Platz sitzen.
Unter den Gaesten kehrte augenblicklich Stille ein und alle saßen da wie vom Donner geruehrt. Thomas, erst noch wie paralysiert, hob langsam seine rechte Hand und wischte sich damit den kalten Wein aus den Augen. Anselm war der erste, der sprach: "Anna! Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?" Doch Thomas hob unterbrechend die Hand: "Ich bin sicher es war nur ein Versehen, das stimmt doch, Anna?" "Oh, es tut mir so leid!" erwiderte sie uebertrieben eifrig und begann, ihm mit einer Stoffserviette reichlich unsanft das Gesicht trockenzuwischen, "Hinter dir auf dem Tisch...ich habe mich so vor dem Backhuhn erschreckt, da hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle!"
Thomas, ihre Scharade durchschauend, stieß ihre Hand aergerlich beiseite. "Ja ja, ist schon gut, das mache ich selber." An Anselm gewandt fragte er: "Kann ich euren Waschraum benutzen und mir eins eurer Hemden ausleihen?" Dieser war untroestlich: "Gewiss gewiss, geht nur! Hiltrud wird dir den Weg zeigen." Thomas stand auf und folgte mit schnellen Schritten Anselms Frau, die ihm bereits vorausgeeilt war. Waehrend Thomas sein Gesicht in dem großen Holztrog wusch, legte Hiltrud ihm eins der Hemden ihres Mannes zurecht und hoerte nicht auf, sich fuer Anna zu entschuldigen. Als er das Hemd uebergestreift hatte, was eigentlich viel zu klein war trat er an Hiltruds Seite wieder in den Hof. Dort ergriff er das Wort: "Verzeih mir Anselm, aber die Reise und der viele Wein" er schaute grimmig bewusst in Annas Richtung "haben mich muede gemacht. Wenn ihr mich entschuldigen wollt, ich werde jetzt zu Bett gehen."
Anselm nahm seinen Arm: "Natuerlich, mein Junge. Komm, ich zeige dir dein Zimmer!" Nachdem Thomas allen eine gute Nacht gewuenscht hatte und mit Anselm im Haus verschwunden war, versetzte Berta Anna mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf. "DU!" fauchte sie, "Du hast alles verdorben!" Anna rieb sich empoert die geschlagene Stelle: "Au, bist du verrueckt geworden!? Reg dich ab, du wirst noch lange genug mit ihm zusammen sein, den Rest deines Lebens, das sollte wohl reichen!" Damit drehte Anna sich um und ging ebenfalls ins Haus. Sie hatte bereits jetzt die Nase voll. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie sich ebenfalls nach einem Ehemann umsah und dieses Haus schleunigst verliess, damit sie nicht allzulange in Thomas' Naehe sein musste.
"Anna Lena, wenn du so weiter machst, wirst du noch aus dem Fenster fallen!" tadelte Hiltrud ihre juengste Tochter amuesiert, "Ausserdem bist du so keine besonders grosse Hilfe! Vater kommt auch nicht frueher zurueck, wenn du dich alle paar Sekunden hinauslehnst um nach ihm zu sehen!" "Entschuldige, Mutter!" erwiderte Anna mit gespielter Reue – um sich zwei Minuten spaeter wieder von ihrem Platz auf der Bank am Kuechenfenster vorzubeugen und in die Klostergasse hinauszuspaehen, ueber die ihr Vater von seiner Geschaeftsreise nach Hause kommen musste.
Hiltrud sah es, oeffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, und verkniff es sich dann. Worte konnten gegen Erwartung eben nichts ausrichten. Statt dessen fuhr sie fort, schweigend das Silber zu putzen, und betrachtete ihre beiden Toechter, die ihr dabei halfen. Berta, die aeltere, hockte am Kuechentisch und schrubbte mit wenig Begeisterung im Gesicht vor sich hin. Sie zaehlte 20 Jahre und war eine etwas plumpe Erscheinung, was sie zahlreichen heimlichen naechtlichen Ausfluegen in die Speisekammer verdankte. Haesslich konnte man sie nicht nennen, aber eine Schoenheit war sie auch nicht gerade. Das lange dunkle Haar lag ihr flach auf dem Kopf auf und wirkte meist etwas ungewaschen, und das runde Mondgesicht mit den kleinen grauen Augen drueckte gemuetliches Desinteresse aus. Ausserdem liessen ihre Manieren zu wuenschen uebrig, die Hellste war sie ohnehin nicht!
Aus dem Grund war Anselm auch der Meinung, dass man sie unbedingt bald verheiraten muesse, bevor ihre unschoenen Eigenschaften zu bekannt wurden und sie gar keiner mehr haben wollte, obwohl sein Geschaeft samt dem riesigen Hof an der hinteren Stadtmauer bei der Hochzeit mit Berta an ihren Ehemann fiel.
Aus diesem Grund war er auch jetzt hauptsaechlich unterwegs. Bei seiner Rueckkehr wuerde er den zukuenftigen Braeutigam, den er Berta zugedacht hatte, mitbringen. Das wussten die Maedchen allerdings nicht, sonst waere Anna vor Neugier sicher wirklich schon aus dem Fenster gefallen, und auch Berta haette wohl etwas mehr Interesse an seiner Rueckkehr gezeigt.
Hiltruds Augen blieben an ihrer Juengsten haften. Anna war gerade 18 geworden. Fuer sie einen Mann zu finden wuerde sicher kein Problem sein, auch ohne die stattliche Mitgift, die ihr zugedacht war. Sie war so wunderschoen, dass sich saemtliche Burschen von Rothenburg, ob verheiratet oder nicht, auf der Strasse nach ihr umdrehten. Langes, fast schwarzes Haar, grosse, leuchtend gruene Augen und ein sinnlicher geschwungener Mund im Gesicht eines Engels. Sie hatte einen schlanken, zierlichen Koerper mit ueppigen Rundungen an den richtigen Stellen, eine alabasterweisse Haut, und sie bewegte sich mit einer umwerfenden natuerlichen Anmut. Darueberhinaus war sie gescheit, selbstbewusst und schlagfertig, und so manchen allzu unverschaemten Juengling hatte sie schon auf der Strasse vor versammelter Mannschaft abgekanzelt, was ihr die Lacher und die Sympathien vieler Rothenburger eingebracht hatte. Sie war mehr als nur schoen anzusehen, man konnte sich wahrhaftig mit ihr unterhalten. Ausserdem musste der Mann, der sie unziemlich beruehrt haette, ihr erst noch begegnen. Sie war rein wie frisch gefallender Schnee.
Schon einige junge und auch aeltere Maenner hatten bei Anselm anklingen lassen, dass sie seine Anna gern als Braut heimgefuehrt haetten, aber der Kaufmann hielt sich bedeckt. Erstens musste er zuerst Berta unter die Haube bringen und zweitens war ihm durchaus bewusst, dass Anna der Koeder war, mit dem man einen reichen und maechtigen Schwiegersohn an Land ziehen konnte. Also wollte er warten, ob sich nicht doch noch etwas besseres ergab als Rothenburger Moechtegernherren. Vorlaeufig konnte er sich das noch erlauben, denn Anna hatte bisher noch an keinem Mann Interesse gezeigt, sie alle als Dummkoepfe und Aufschneider bezeichnet und die Nase ueber sie geruempft.
"VATER IST DA!" schrie Anna ploetzlich und stob von ihrer Bank, dass das gute Silber in alle Richtungen davonflog. Wie der Wind war sie die Tuer hinaus und die Treppen hinab. Hiltrud seufzte und folgte ihr mit Berta etwas langsamer.
Anselm war kaum von seinem Kutschbock herunter, da warf sich Anna auch schon in seine Arme und bestuermte ihn mit Fragen ueber seine Reise, ueber Neuigkeiten und – natuerlich – ob er ihr denn etwas mitgebracht haette. Anselm lachte ueber den Ueberschwang seiner Juengsten und schob sie mit sanfter Gewalt von sich: "Langsam, Anna, langsam....nun lass mich erstmal verschnaufen und dann die grosse Neuigkeit verkuenden!" Er strich sich sein Wams glatt, machte eine bedeutungsschwangere Pause, genoss Annas Spannung und Bertas langsam erwachendes Interesse, und fuhr dann fort: "Heute Abend, liebe Berta, wird dein zukuenftiger Braeutigam bei uns eintreffen. Er wird bei mir in die Lehre gehen, und sobald er bereit ist, den Betrieb zu fuehren, sollst du ihn heiraten!"
Anna verzog das Gesicht; und das sollte die grosse Neuigkeit sein!? Wer wuerde sich ueber so etwas schon freuen? Sie drehte sich zu ihrer aelteren Schwester um, bereit, ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen, und stellte ueberrascht fest, dass Bertas Gesicht strahlte vor Glueck. Mit einem Freudenschrei fiel sie ihrem Vater um den Hals und jubelte: "O Vater, das ist ja wunderbar! Wer ist er?" Anna dachte sich, dass sie sich das Jubeln vielleicht besser bis nach dieser Eroeffnung aufgehoben haette.
Anselm fuhr fort: "Erinnert ihr euch an Thomas, den zweitaeltesten Sohn der Adler-Familie?" O ja, an den erinnerte Anna sich allerdings! Die Adler-Familie fuehrte das groesste Wirts- und Gasthaus im 20 Kilometer entfernten Ansbach, und der Adler-Wirt und Anselm waren Freunde seit Kindertagen. Oft hatten sich die Familien gegenseitig Besuche abgestattet, und gerade Thomas war Anna in aeusserst unangenehmer Erinnerung geblieben. Sie hatte ihn zwar seit etwa sechs Jahren nicht mehr gesehen, aber dennoch erinnerte sie sich sehr genau daran, dass der um sechs Jahre aeltere Junge sie mit Freude an den Haaren gezogen und mit allerlei Krabbelviehzeug wie Spinnen und Froeschen erschreckt hatte. Die Kroenung war gewesen, als er und sein aelterer Bruder Bengt ein Huhn fuers Abendessen hatten schlachten sollen, und Thomas ihr das noch flatternde, blutende und kopflose Tier in den Nacken gesetzt hatte. Anna war eigentlich nicht sehr zimperlich, aber da hatte sie beinahe einen hysterischen Zusammenbruch erlitten, bis Bengt sie von dem Vogel endlich befreit hatte, was sich als schwierig erwiesen hatte, weil sie herumgerannt war wie eine Irrsinnige.
Seither hatte sie Thomas’ Gegenwart tunlichst vermieden. Und ausgerechnet er wurde ihr nun als Schwager vor die Nase gesetzt! Nunja, mittlerweile wuerde er 24 sein und sicherlich von solchen kindischen Spaessen absehen. Waehrend die Dienstboten den Karren abluden, folgte Anna missmutig der aufgeregten Berta und ihren Eltern ins Haus. Thomas sollte am Abend eintreffen, und es gab noch einiges fuer das Festmahl zur Feier des Tages vorzubereiten.
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Thomas konnte Rothenburg schon sehen, als er aus dem Wald herausritt. Seinem Rappen, der schon ein paar Jaehrchen auf dem Buckel hatte, sammelte sich bereits Schaum vor den Nuestern, so hatte der junge Mann das arme Tier von Ansbach aus gehetzt. Es war ein lauer Fruehlingsabend, und er musste sich sputen um noch rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit den Hof des Kaufmanns zu erreichen, dessen Tochter er ehelichen sollte.
Die Wachen am Tor lehnten gelangweilt an der dicken Steinmauer, als er sich naeherte. Einer der Maenner richtete sich aechzend auf, als Thomas heranritt, und erkundigte sich desinteressiert: "Was ist Euer Begehr in den Mauern von Rothenburg?" "Heute Abend bin ich Gast bei Anselm dem Kaufmann und seiner Familie, die ein Fest anlaesslich meiner Verlobung mit seiner aeltesten Tocher gibt. Ich schlage Euch vor, das Tor schleunigst zu oeffnen, wenn ihr von dem vielen Bier das sicherlich fließen wird, nach eurer Wache auch etwas abhaben wollt!" Die beiden Maenner warfen sich einen belustigten Blick zu: "Die Berta sollt Ihr heiraten? Dann wird von dem Bier sowieso nichts uebrig bleiben, das werdet Ihr selbst brauchen, die muesst Ihr Euch schoentrinken!" Damit gaben sie das Tor frei.
Thomas trieb sein Pferd unter dem massiven Steinbogen hindurch, sichtlich verwirrt. Er hatte sie und ihre Schwester Anna-Lena zwar lange Zeit nicht mehr gesehen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Berta sich seit damals so veraendert haben sollte. Er ritt die gepflasterte Strasse entlang und kam schließlich an das große Haus, das Anselm gehoerte. Mit anderen Haeusern in Rothenburg verglichen war es geradezu riesig. Das einzige Gebaeude, das es in der Groeße noch ausstach, war die Kirche, die wie ein einsamer Waecher in der anbrechenden Nacht ueber der Stadt wachte.
Das Hoftor, das den Eintritt durch eine gewaltige Steinmauer ermoeglichte, war einen Spalt offen, Fackelschein und das Summen von Stimmen drang hindurch. Anselm hatte das Festmahl im Hof errichten lassen, da es der erste schoene Tag dieses Jahres war. Als Thomas hindurchritt, richteten sich alle Blicke auf ihn. Nur Anselm hatte ihn auch in juengerer Vergangenheit gesehen und so war es nicht verwunderlich, dass ihm von dem einen oder anderen ein 'Ah' oder Oh' entgegenhallte. Er hatte nicht mehr allzuviel Aehnlichkeit mit dem Juengling von damals. Eher schmaechtig war er gewesen und hatte noch sehr jungenhaft gewirkt. Doch jetzt saß da ein junger stattlicher Mann mit blonden Haaren im Sattel, dem man die viele koerperliche Arbeit auch ansah. Das weiße Leinenhemd, das er trug, verbarg nur schwerlich seinen muskuloesen Oberkoerper.
Berta und Anna legten gerade letzte Hand an die Tischdekoration, als er eintraf. Berta bemerkte ihn als erstes. Sie schnappte nach Luft und packte ihre juengere Schwester am Arm: "O Anna! Sieh ihn dir an! Er ist hinreissend!" Anna, die fest entschlossen war, ihren einstigen Todfeind in jedem Falle schrecklich zu finden, wollte ihm nur einen kurzen Blick zuwerfen, konnte es aber selbst nicht verhindern, dass sie sich nicht sofort von dem anziehenden Aeusseren Thomas' losreissen konnte, und aus ihrem geplant geringschaetzigen Blick wurde eine ueberraschte Musterung. Schliesslich wandte sie ihm fast aergerlich den Ruecken zu: "Er war immer ein Schurke, er wird immer einer bleiben, und wenn er ausschauen wuerde wie der Heiland persoenlich!" knurrte sie missgestimmt.
Thomas stieg behende vom Pferd, das der Stallknecht auch gleich wegfuehrte. Mit ausgebreiteten Armen kam ihm Anselm entgegen: "Ich freue mich ja so dass du gekommen bist! Du musst von dem langen Ritt ganz erschoepft sein. Aber schau nur was meine Frauen fuer ein koestliches Mal bereitet haben! Aber wo sind denn meine Manieren: Lass mich dir erstmal deine zukuenfigte Gattin vorstellen!" Anselm war sichtlich aufgeregt und fuehrte ihn zum Tisch, an dem ja alle schon versammelt waren. Der Kaufmann wies sichtlich stolz auf seine aeltere Tochter: "Das ist meine liebe Berta!" Thomas' Blick fiel auf sie und er wusste nicht genau wie er reagieren sollte, hatte er sich Berta doch etwas anders vorgestellt. Aber er brachte doch ein verlegenes Laecheln zustande, nahm ihre Hand und gab ihr einen unbeholfenen Handkuss, was die junge Frau dazu veranlasste, ihren Kopf kichernd zur Seite zu drehen.
Anna verdrehte so weit die Augen, dass nur noch das Weisse zu sehen war. Hiltrud versetzte ihr einen unsanften Stoss in die Seite, aber sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Auch sie hatte das Huhn nicht vergessen. Da trat Anselm auch schon zu Anna und ihrer Mutter und schob die beiden auf Thomas zu: "Und an meine geliebte Frau Hiltrud und die kleine Anna kannst du dich sicher auch noch erinnern, richtig?" Thomas laechelte zuerst die Frau des Hauses an, dann wandte er sich zu Anna: "Aber natuerlich, wie koennte ich zwei solch reizende Damen vergessen?" Er runzelte kurz die Stirn. "Doch sagt mir Anselm, seid Ihr sicher, das dies Eure Tochter Anna ist? Sie scheint sich seit damals gehoerig veraendert zu haben!" bemerkte er noch mit einem forschen Grinsen.
Anna verschraenkte die Arme vor der Brust und bemerkte giftig: "Ja, diesmal sitzt mit kein verdammtes Huhn im Nacken!" Ihre gruenen Augen waren die pure Herausforderung. Thomas raeusperte sich verlegen: "Ah das...ich kann mich noch daran erinnern. Du wirst mir doch wohl nach sechs Jahren nicht noch immer wegen dieser Geschichte boese sein? Und du musst zugeben, die ganze Angelegenheit war doch irgendwie lustig, findest du nicht?" "Ja...wahnsinnig lustig!" erwiderte Anna patzig, "Ich bekomme im Huehnerstall noch heute eine Gaensehaut!"
Gerade wollte ihr Thomas antworten, da trat Anselm heran und versuchte zu beschwichtigen: "Ich denke nachher ist noch genug Zeit dafuer. Jetzt lasst uns erstmal essen, der koestliche Lammbraten wird ja schon ganz kalt!" Man setzte sich an den Tisch, und die Maegde begannen, allen aufzutragen. Berta sass neben Thomas und betrachtete ihn hingerissen. Anna dagegen beaeugte ihn so misstrauisch, als erwartete sie, dass er ihr jeden Moment einen Frosch auf den Teller warf. Auch das hatte er schon einmal getan. Sie hatte nichts vergessen!
Aber Thomas begnuegte sich damit, sich die vielen verschiedenen Speisen munden zu lassen. Anselm hatte wirklich keine Kosten und Muehen gescheut um seinen Schwiegersohn in spe so richtig zu verwoehnen. Da war natuerlich das Lamm, das bis erst kuerzlich am Spieß gebraten hatte und einen koestlichen Duft verstroemte. Frisch gebackenes Brot, Kaese, Tomaten und Eier durften auch nicht fehlen. Dazu flossen Wein und Bier in Massen. Anselm ass kaum, er redete in einer Tour und wurde nicht muede, Thomas zu versichern, wie gut das Geschaeft lief, wieviel Geld da war und was fuer eine wunderbare Ehefrau seine Berta sein wuerde.
Wenn Anselm gerade eine kurze Pause machte, erzaehlte Thomas seinerseits von der Zeit als er seinem Vater im Gasthof geholfen hatte und von so manchem kuriosen Besucher, der sich im Laufe der Jahre dort eingefunden hatte. Manche Geschichten waren so urkomisch, dass sogar Anna lachen musste. Aber sobald sie es merkte, drehte sie sich moeglichst rasch weg oder verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Becher, damit Thomas auch ja nichts merkte und vielleicht auf die Idee kommen wuerde, dass sie ihn amuesant finden koennte.
So schnell verging die Zeit ueber diese Geselligkeiten, dass sich auch das kleine Weinfaesschen zusehends leerte. Als fast nichts mehr uebrig war bat Anselm seine juengere Tochter: "Ach Anna, Liebes, hol doch bitte noch etwas Wein aus dem Keller und schenke unserem Ehrengast ein! Sein Becher ist ja schon ganz leer!" Anna setzte schon an, um zu protestieren, dass sie schliesslich keine Magd sei, aber ihre Mutter kniff ihr in den Arm und warf ihr einen warnenden Blick zu. Also stand das Maedchen auf und stapfte verdrossen in Richtung Keller. Thomas sah Anna herausfordernd hinterher und bemerkte: "Anselm, du solltest sie vielleicht nicht alleine schicken. Man denke nur ein Huhn haette sich in den Keller verirrt, da wuerde sie doch glatt in Panik verfallen und den Krug auf den Boden werfen – und es waere doch schade um den teuren Wein!"
Die anderen brachen in schallendes Gelaechter aus. Anna stieg das Blut in den Kopf vor Wut. Dieser miese Hund! Sie hatte genau gewusst, dass er sich kein bisschen veraendert hatte! Foermlich kochend ging sie in den Keller und fuellte ihren Krug mit Wein. Auf dem ganzen Rueckweg ueberschlugen sich ihre Gedanken, wie sie es ihm heimzahlen konnte. Ihr Gesicht verhiess Unheil, als sie in den Hof zurueckkam und auf Thomas zuging, um seinen Becher zu fuellen.
Thomas sah ihr schon entgegen als sie mit wilder Miene auf ihn zugestapft kam. Als ob seine Sticheleien von vorhin nicht schon genug gewesen waren, hob er ihr jetzt laessig seinen Becher hin, als ob es fuer ihn eine Selbstverstaendlichkeit waere, dass sie ihn bediente. Oh, wie sie ihn in diesem Augenblick hasste! Und dann sah sie hinter ihm auf dem Tisch ein gebratenes Huehnchen. Das zufriedene Laecheln unterdrueckte sie gerade noch. Stattdessen schrie sie schrill auf und warf kunstvoll die Arme in die Luft, waehrend sie zuruecksprang. Sie hatte gut gezielt. Der Wein ergoss sich punktgenau einzig ueber Thomas, liess ihn mit ruiniertem Hemd und triefnassem Haar auf seinem Platz sitzen.
Unter den Gaesten kehrte augenblicklich Stille ein und alle saßen da wie vom Donner geruehrt. Thomas, erst noch wie paralysiert, hob langsam seine rechte Hand und wischte sich damit den kalten Wein aus den Augen. Anselm war der erste, der sprach: "Anna! Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?" Doch Thomas hob unterbrechend die Hand: "Ich bin sicher es war nur ein Versehen, das stimmt doch, Anna?" "Oh, es tut mir so leid!" erwiderte sie uebertrieben eifrig und begann, ihm mit einer Stoffserviette reichlich unsanft das Gesicht trockenzuwischen, "Hinter dir auf dem Tisch...ich habe mich so vor dem Backhuhn erschreckt, da hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle!"
Thomas, ihre Scharade durchschauend, stieß ihre Hand aergerlich beiseite. "Ja ja, ist schon gut, das mache ich selber." An Anselm gewandt fragte er: "Kann ich euren Waschraum benutzen und mir eins eurer Hemden ausleihen?" Dieser war untroestlich: "Gewiss gewiss, geht nur! Hiltrud wird dir den Weg zeigen." Thomas stand auf und folgte mit schnellen Schritten Anselms Frau, die ihm bereits vorausgeeilt war. Waehrend Thomas sein Gesicht in dem großen Holztrog wusch, legte Hiltrud ihm eins der Hemden ihres Mannes zurecht und hoerte nicht auf, sich fuer Anna zu entschuldigen. Als er das Hemd uebergestreift hatte, was eigentlich viel zu klein war trat er an Hiltruds Seite wieder in den Hof. Dort ergriff er das Wort: "Verzeih mir Anselm, aber die Reise und der viele Wein" er schaute grimmig bewusst in Annas Richtung "haben mich muede gemacht. Wenn ihr mich entschuldigen wollt, ich werde jetzt zu Bett gehen."
Anselm nahm seinen Arm: "Natuerlich, mein Junge. Komm, ich zeige dir dein Zimmer!" Nachdem Thomas allen eine gute Nacht gewuenscht hatte und mit Anselm im Haus verschwunden war, versetzte Berta Anna mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf. "DU!" fauchte sie, "Du hast alles verdorben!" Anna rieb sich empoert die geschlagene Stelle: "Au, bist du verrueckt geworden!? Reg dich ab, du wirst noch lange genug mit ihm zusammen sein, den Rest deines Lebens, das sollte wohl reichen!" Damit drehte Anna sich um und ging ebenfalls ins Haus. Sie hatte bereits jetzt die Nase voll. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie sich ebenfalls nach einem Ehemann umsah und dieses Haus schleunigst verliess, damit sie nicht allzulange in Thomas' Naehe sein musste.